Ungarns schwulenfeindliche Verfassung
homo.net Info vom 19. November 2020
von Webmaster Jan
Seit Premierminister Viktor Orbán (57) vor 10 Jahren in Ungarn an die Macht kam, geht die rechtskonservative Regierung systematisch gegen queere Menschen im Land vor. Jetzt schmiedet Ungarn ein ganzes Bündel neuer Anti-LGBT-Gesetze, einen Generalschlag gegen homosexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen.
Solche Verstöße gegen den Rechtsstaat sollen künftig in der EU finanzielle Folgen haben. Bei einem Gipfel Mitte Juli hatten die EU Staats- und Regierungschefs beschlossen, von 2020 bis 2027 etwa 1,8 Billionen Euro für Krisenhilfe auszugeben. Um auch Länder zu überzeugen, denen diese Geldverschiebung viel zu weit geht, haben die Mitgliedstaaten sich auf die Einführung des Rechtsstaatsmechanismus ab dem nächsten Gemeinschaftshaushalt verständigt. Die Vergabe von EU-Mitteln soll an die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien in den Empfängerstaaten geknüpft werden.
Viktor Orbán blockiert derzeit, gemeinsam mit Polen, den europäischen Haushalt der kommenden sieben Jahre. So wollen sie die Gesetzgeber in Brüssel zwingen, noch einmal Hand an den Rechtsstaatsmechanismus zu legen und diesen bis zur Unkenntlichkeit zu verwässern. Mit ihrem Veto schaden sich die beiden Länder aber in erster Linie selbst. Denn Ungarn und Polen sind auf die Fördermittel aus Brüssel dringend angewiesen.
Orbáns Risikobereitschaft ist bemerkenswert. Statt sich eher still zu verhalten, um die vielen Menschenrechtsverletzungen der letzten 10 Jahre möglichst unauffällig unter dem Teppich verschwinden zu lassen, bastelt er an einem Großangriff auf alles, was schwul und trans ist.
Definitionen heterosexueller Geschlechter sollen in der Verfassung verankert werden. Der Satz „Die Mutter ist eine Frau, der Vater ein Mann“ wird dann Verfassungsrang haben, ebenso, dass die Basis einer Familie die Ehe zwischen Mann und Frau sei und für Kindererziehung soll das ungarische Grundgesetz gar „verfassungsmäßige Identität und christliche Kultur“ vorschreiben. Auch die ungarische Gleichstellungsbehörde soll abgeschafft werde.
In der Begründung für die Verfassungsänderungen steht, „moderne Ideen, die traditionelle Werte“ relativierten, seien Anlass zur Sorge. „Zeitlose Konzepte, die aus der Schöpfungsgeschichte“ rührten, seien bedroht. Die Verfassung, die damit zum neunten Mal seit 2011 geändert würde, betont „christliche Werte und das Überleben der Nation“ als Grundlagen des Zusammenlebens.
All das richtet großen Schaden für die Betroffenen an, denn gewöhnlich fließen solche Verfassungsregeln in viele andere Gesetze ein. Das legalisiert nicht nur Diskriminierung, sondern zementiert sie in der Verfassung. In Ungarn wird es dann keine Ehe für alle, keine Regenbogenfamilien und keinerlei Rechtsmittel mehr gegen Diskriminierung aufgrund von Geschlecht oder sexueller Orientierung geben.
Diese ungarische Regierung funktioniert bisher so, dass sie immer einen Feind braucht, um die Illusion eines Kampfes dagegen aufrecht zu erhalten. In den vergangenen 10 Jahren gab es viele solcher „Feinde“: die Flüchtlinge, Milliardär und Menschenfreund George Soros (90), Stiftungen, Bürgerrechtsorganisationen, Universitäten … Und jetzt ist die LGBT-Gemeinschaft dran.
Homosexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen sind in Ungarn Bürger zweiter Klasse. Sie sind unerwünscht. Wollen Betroffene gleiche Rechte für sich durchsetzen, bleibt nur noch eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Doch selbst da weigern sich verurteilte ungarische Behörden, solche Urteile umzusetzen.
Intersexuelle fallen gleich ganz durchs gesetzliche Raster. Es soll festgelegt werden, dass das Geschlecht eines Menschen bei der Geburt von Ärzten ein für alle Mal festgestellt wird, eine Regelung, die sich gegen Transgender richtet. Seit Mai ist es in Ungarn bereits verboten, eine Änderung des Geschlechts von den Behörden eintragen zu lassen.
Mit all dem ist Viktor Orbán bisher davongekommen. Er pfeift auf europäische Standards, weil er es sich bisher erlauben konnte. Aber die EU kann und darf nicht zulassen, dass mitten in Europa vor allen Augen der Rechtsstaat mit der Abrissbirne demoliert wird.
Genug ist genug. Offenbar will Orbán mit dem Veto die Gesetzgeber in Brüssel zwingen, noch einmal Hand an den Rechtsstaatsmechanismus zu legen und diesen bis zur Unkenntlichkeit zu verwässern.
Aber mit dem Rechtsstaatsmechanismus hat die Europäische Union zum ersten Mal ein wirksames Instrument in der Hand, um gegen Mitgliedsstaaten vorgehen zu können, die gemeinsame Grundwerte mit Füßen treten. 1,8 Billionen Euro sind ein Angebot, dem sich kein Empfängerland verschließen kann, ohne sich damit am meisten zu schaden.
Dieser Kampf ist es wert, endlich ausgefochten zu werden. Es geht auch um die Zukunft der Europäischen Union, die mehr sein will und mehr sein muss als nur ein Geldautomat. Die EU muss diesmal hart bleiben. Sie muss ihre Werte verteidigen, Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit schonungslos anprangern und wirkungsvoll abschaffen. 1,8 Billiarden Euro werden ihr dabei helfen. Wenn es um Geld geht, werden Ungarn und Polen ihr Veto zurückziehen.
Sollten Victor Orbán traditionelle Werte und zeitlose Konzepte aus der Schöpfungsgeschichte tatsächlich wichtiger sein als die Rechte seiner Untertanen und deren wirtschaftliche Lebensgrundlage, müsste er diese halt ohne die Milliardenhilfe aus der EU verteidigen. Vielleicht findet er dann ja auch in der Bibel eine Lösung für die unvermeidliche Wirtschaftskrise. Beten alleine wird da nicht reichen.
Für ein rechtsstaatliches Europa
Jan
Webmaster
vom homo.net Team